„Wichser“ kein Kündigungsgrund

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. August 2011 (Az. 2 Sa 232/11):

Leitsatz:

Die Bezeichnung eines Vorgesetzten als „Wichser“ stellt eine erhebliche Ehrverletzung dar. Jedoch kann eine außerordentliche Kündigung aufgrund der konkreten Umstände nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ungerechtfertigt sein.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Trier vom 09.02.2011 – 1 Ca 1248/10 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung vom 01.09.2010.

Der im Jahre 1975 geborene ledige Kläger ist seit 01.08.1992 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Einzelhandelskaufmann beschäftigt. Als Lagerist bezog er zuletzt ein Bruttomonatsgehalt von 2.393,00 EUR. An der Betriebsratswahl vom 16. April 2010 nahm er als Wahlbewerber teil. Am Freitag, den 27.08.2010 begab sich der Kläger gegen 10:30 Uhr zu einem Arzt und kehrte gegen 11:50 Uhr in den Betrieb zurück. Er suchte den Marktleiter, Herrn H., auf, dieser war gerade mit einer Warenannahme beschäftigt.

Er berichtet, er sei krankgeschrieben und habe am Donnerstag einen neuen Arzttermin. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung legte er im Warenannahmebüro ab.

Kurz darauf kam Herr H. in dieses Büro, fand die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor und ließ den Kläger über die Lautsprecheranlage ausrufen. Der Kläger, der sich noch im Betrieb befand, meldete sich von einem internen Apparat in der Nähe des Aufenthaltsraumes.

Bei dem Telefonat fragte Herr H. den Kläger nach dessen Krankmeldung und wie es nun weiterginge, wobei der weitere genaue Inhalt des Telefonats streitig ist. Zuletzt schrie der Kläger Herrn H. mit den Worten an: „Wenn Sie schlechte Laune haben, dann wichsen Sie mich nicht von der Seite an.“ Er legte den Hörer auf und sagte anschließend im Beisein von Mitarbeiterinnen der Beklagten sowie einer Servicekraft der Firma T. einen Satz, der wiederum mit dem Begriff „Wichser“ begann. Der Kläger verließ im Anschluss den Markt.

Wegen der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung übergab am 31.08.2010 Herr H. dem Betriebsrat den Anhörungsbogen betreffend die außerordentliche Kündigung des Klägers unter Angabe von dessen Sozialdaten, Art und Termin der Kündigung nebst Anlage mit schriftlicher Sachverhaltsschilderung. Auf dem Anhörungsbogen wurde von der Betriebsratsvorsitzenden Frau W. mit Datum vom 31.08.2010 erklärt, der Betriebsrat stimme der geplanten Kündigung zu.

Mit Schreiben vom 01.09.2010, welches dem Kläger am 06.09.2010 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich.

Der Kläger hat vorgetragen, ein wichtiger Kündigungsgrund liege trotz seiner Äußerungen nicht vor. Er habe Herrn H. in der Warenannahme die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mehrfach hingehalten, sei von diesem jedoch völlig ignoriert worden, worauf er ihm mitgeteilt habe, dass er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Büro abgeben werde.

Bei dem anschließenden Telefonat habe er durch eine Äußerung von Herrn H, er solle sich schon einmal mit dem Betriebsrat bzw. dessen Vorsitzender auseinandersetzten und da komme noch etwas, sich mit einer Kündigungsdrohung konfrontiert gesehen. Hierüber sei er so aufgeregt und erbost gewesen, dass er diese Äußerung gemacht habe. Nach dem Auflegen des Hörers sei er immer noch in hohem Maße erregt gewesen und habe nicht zu Dritten, sondern laut vor sich hingesagt, dass „dieser Wichser ihn wegen dem „Gelben“ kündigen wolle.“

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, es handele sich um ein Augenblicksversagen, verursacht durch Provokation und Androhung der Kündigung.

Das Vorliegen ordnungsgemäßer Betriebsratsanhörung hat der Kläger mit Nichtwissen bestritten.

Der Kläger hat beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung vom 01.09.2010 nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, Herr H. habe den Kläger in der Warenannahme nicht ignoriert sondern keine Zeit gehabt, mit ihm ein Gespräch über seine Arbeitsunfähigkeit zu führen. Der Kläger habe Herrn H. „stehen lassen.“

In dem anschließenden Telefonat habe der Marktleiter in ruhigem, sachlichen Ton gefragt, wie es denn nun mit der Erkrankung weitergehe. Er habe dem Kläger angeboten, sich noch mal bei dem Betriebsrat über die korrekte Vorgehensweise bei einer Krankschreibung beraten und helfen zu lassen. Der Kläger habe ihn kaum zu Wort kommen lassen und mit den bereits dargestellten Worten angeschrien. Nach Auflegen des Hörers habe er zwei Pizzen, die er aus dem Markt genommen habe, auf den Boden geworfen und aus voller Brust gebrüllt: „Der Wichser, er hat sie doch nicht mehr alle“ und „Dann sollen die Arschlöcher mich doch rauswerfen.“

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Trier vom 09.02.2011 verwiesen.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage entsprochen.

Es hat ausgeführt, innerhalb der Drei-Wochen-Frist nach Zugang der schriftlichen Kündigung habe der Kläger mit am 14.09.2010 eingegangener Kündigungsschutzklage Klage erhoben.

Die Beklagte habe die Ausschlussfrist zur außerordentlichen Kündigung gewahrt. Ein wichtiger Grund läge nicht vor. Hierzu führt das Arbeitsgericht ins Einzelne gehend aus und legt zunächst dar, die Äußerungen gegenüber dem Marktleiter stellten einen „an sich geeigneten“ wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB dar. Die Äußerungen des Klägers im Telefongespräch sei als grobe Beleidigung anzusehen. Auch die nachfolgend geäußerte Bezeichnung des Marktleiters als „Wichser“ und die streitige Verwendung des Begriffs „Arschlöcher“, die von mehreren Mitarbeitern gehört wurden, stellten nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung des Vorgesetzten dar.

Die außerordentliche Kündigung sei jedoch aufgrund der konkreten Umstände nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gerechtfertigt. Auch bei verhaltensbedingter Kündigung gelte das sog. Prognoseprinzip. Die Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setze regelmäßig eine Abmahnung voraus. Sie diene der Objektivierung der negativen Prognose. Die Abmahnung sei zugleich auch Ausschluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Selbst bei Störungen im Vertrauensbereich durch Eigentums- und Vermögensdelikte könne es danach Fälle geben, in denen eine Abmahnung nicht ohne Weiteres entbehrlich erscheine. Eine Abmahnung könne nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch im Einzelfall als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrages notwendigen Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen. Dies sei insbesondere anzunehmen, wenn sich ein Eingriff in das Eigentum des Arbeitgebers nach den konkreten Umständen als bloße Eigenmächtigkeit erweise, aus der nicht geschlossen werden könne, dass es dem Arbeitnehmer an einer an Korrektheit und Ehrlichkeit ausgerichteten Grundhandlung fehle. Im vorliegenden Fall sei eine Abmahnung als milderes Mittel nach den konkreten Umständen des vorliegenden Falles sowohl geeignet als auch ausreichend gewesen. Im Zeitpunkt des streitgegenständlichen Vorfalls lag weder eine einschlägige noch eine sonstige Abmahnung des Klägers wegen vertragswidrigen Verhaltens vor. Die Abmahnung sei auch nicht entbehrlich. Weder sei eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht zu erwarten noch handele es sich um eine derart schwere Pflichtverletzung, deren Rechtswidrigkeit dem Kläger ohne Weiteres erkennbar wäre und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen wäre. Hierbei könne von der Sachverhaltsschilderung der Beklagten ausgegangen werden. Angesichts der 18-jährigen Betriebszugehörigkeit dürfe bei dem vorliegenden Arbeitsverhältnis eine für lange Zeit ungestörte Vertrauensbeziehung nicht durch eine erstmalige Vertrauensenttäuschung vollständig und unwiederbringlich zerstört werden. Je länger eine Vertragsbeziehung ungestört bestehe, desto eher könne die Prognose berechtigt sein, dass der dadurch erarbeitete Vorrat an Vertrauen durch einen erstmaligen Vorfall nicht vollständig aufgezehrt werde. Dabei komme es nicht auf die subjektive Befindlichkeit und Einschätzung des Arbeitgebers oder bestimmter für ihn handelnder Personen an. Entscheidend sei ein objektiver Maßstab. Das müsse bei Ehrverletzungen ebenso gelten wie im Falle von Eigentums- bzw. Vermögensdelikten. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass es einer vorherigen Abmahnung auch bei Beleidigungen trotz Offenkundigkeit der nötigen Verhaltenspflichten und nachhaltiger Störung des Betriebsfriedens insbesondere dann bedürfen könne, wenn es sich um verständlichen Ärger vorausgegangener Provokation oder um Notwehr oder Notstandlagen handele. Es läge zwar keine bewusste Provokation durch den Marktleiter Herrn H. vor, jedoch sei aus den Äußerungen des Klägers, insbesondere dem von der Beklagten vorgetragenen Ausspruch „dann sollen die Arschlöcher mich doch rauswerfen“ eindeutig zu entnehmen, dass der Kläger die Äußerungen so verstanden habe, dass dieser ihm die Kündigung in Aussicht gestellt habe. Die Aussage des Marktleiters, der Kläger solle sich „noch mal vom Betriebsrat über die korrekte Vorgehensweise bei einer Krankschreibung beraten und helfen lassen“ sei aus Sicht eines objektiven Betrachters nicht als wohlgemeintes Angebot sondern als Kritik am Kläger trotz dessen unverzüglicher Anzeige der Arbeitsunfähigkeit und Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu verstehen. Zwar ergebe sich hieraus objektiv nicht zwingend die Bedeutung einer Kündigungsandrohung, jedoch sei es plausibel und nachvollziehbar, dass der Kläger die Äußerung als Androhung der Kündigung verstanden habe. Danach sei es jedenfalls verständlich, dass der Kläger sich über die Äußerung geärgert habe. Dies rechtfertige sein Verhalten zwar nicht, jedoch lasse es in einem anderen Licht erscheinen. Es lägen auch keine Anhaltspunkte wie wiederholte Pflichtverletzung, Beharrlichkeit und Uneinsichtigkeit des Arbeitnehmers vor, welche die Annahme rechtfertigen könnten, dass der Kläger sein Verhalten in Zukunft auch bei Erteilung einer Abmahnung nicht ändern werde.

Selbst wenn die Erforderlichkeit der Kündigung in Bezug auf die notwendige vorherige Abmahnung anders bewertet werde, sei jedenfalls bei Abwägen der Interessen der Parteien im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit die außerordentliche Kündigung als nicht gerechtfertigt anzusehen. Die Interessen des Klägers an dem Erhalt des Arbeitsplatzes würden das Interesse der Beklagten an dessen Auflösung überwiegen. Einerseits sei die Schwere der Verletzung, deren Folgen für den Arbeitgeber, die Betriebsordnung und den Betriebsfrieden, ein evtl. eingetretener Vertrauensverlust sowie die Größe des Verschuldens und der Grad einer bestehenden Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen. Andererseits sei die Dauer des Arbeitsverhältnisses, Lebensalter und Möglichkeit einer anderweitigen Beschäftigung von Bedeutung. Es spiele der betriebliche und branchenübliche Umgangston, der Bildungsgrad und die psychische Befindlichkeit des Arbeitnehmers, die Gesprächssituation, die Ernsthaftigkeit der beleidigenden Äußerung, etwaige Provokationen sowie Ort und Zeitpunkt des Geschehens eine Rolle. In einer Situation, in der der Arbeitnehmer in der Kritik stehe, sei es seine Angst um den Arbeitsplatz und eine damit einhergehende erhöhte Befindlichkeit zu beachten, welche eine Überregaktion erklären könne. Der Kläger habe am 27.08.2010 unter Schmerzen im linken Mittelfinger gelitten, für ihn war nach dem Arztbesuch ungewiss, ob er mit einer Operation oder einer längeren Arbeitsunfähigkeit rechnen müsse. In dieser Situation habe er sich durch die Bemerkung des Herrn H. hinsichtlich der Erkundigung beim Betriebsrat über die Vorgehensweise bei einer Krankschreibung einer objektiv nicht nachvollziehbaren Kritik ausgesetzt gefühlt und habe offensichtlich um seinen bestehenden Arbeitsplatz gefürchtet. Die Äußerungen folgten somit unüberlegt und in einer Situation, in welcher der Kläger aufgeregt und verärgert war. Zwar sei nicht davon auszugehen, dass die vom Kläger verwanden Ausdrücke dem betrieblichen oder branchenüblichen Umgangston entsprächen, auch wenn dieser im Einzelhandel rauer sein dürfte als in anderen Branchen. Es handele sich bei dem Kläger jedoch um einen gelernten Einzelhandelskaufmann, welcher als Lagerist eingesetzt wurde und bei dem von einem verhältnismäßig geringen Bildungsgrad auszugehen sein dürfte. Unabhängig davon falle die sehr lange Betriebszugehörigkeit des Klägers und die Bindung an gerade diesen für ihn wohnortnahen Betrieb ins Gewicht, auch wenn es ihm bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage sicherlich möglich sein dürfte, eine andere Stelle als Einzelhandelskaufmann zu finden. Zu Lasten des Klägers sei zu berücksichtigen, dass seine lauten Äußerungen von drei anderen Mitarbeiterinnen vernommen wurden, was die Herabsetzung des Marktleiters gegenüber einem Vier-Augen-Gespräch verstärke. Doch trotz der Störung des Betriebsfriedens und der Beeinträchtigung der Autorität des Marktleiters überwögen insbesondere bei Berücksichtigung der sehr langen Betriebszugehörigkeit des Klägers und der Gesprächssituation die Interessen des Klägers an dem Erhalt seines Arbeitsverhältnisses. Eine durch Umdeutung zu entnehmende ordentliche Kündigung sei ebenfalls nicht wirksam. Hierzu führt das Arbeitsgericht ins Einzelne gehend aus.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Urteilsbegründung wird auf die vorbezeichnete Entscheidung verwiesen.

Das Urteil wurde der Beklagten am 07.04.2011 zugestellt. Sie hat hiergegen am 24.04.2011 Berufung eingelegt und ihre Berufung, nachdem die Frist zur Begründung bis einschließlich 07.07.2011 verlängert worden war, mit am 06.07.2011 eingegangenem Schriftsatz begründet.

Die Beklagte rügt fehlerhafte Würdigung des erstinstanzlichen Tatsachenvortrags und irrige Rechtsanwendung. Das Urteil sei nicht folgerichtig. Das Arbeitsgericht stelle zunächst eine grobe Beleidigung fest, eine nach Form und Inhalt erhebliche Ehrverletzung und den Umstand, dass die Äußerungen nicht anders verstanden werden könnten. Die Beleidigungen verletzen das Grundrecht der persönlichen Ehre des Herrn H. und seien von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Sie seien an sich geeignet, die außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen.

Wenn dem Gericht darin zu folgen sei, dass das streitgegenständliche Verhalten an sich zur Rechtfertigung der außerordentlichen Kündigung geeignet sei, sei nicht nachvollziehbar, weshalb dieses Verhalten keine derart schwerwiegende Pflichtverletzung darstellen solle, deren Rechtswidrigkeit dem Kläger ohne Weiteres erkennbar gewesen sei und dessen Hinnahme durch die Beklagte offensichtlich ausgeschlossen wäre. Das Arbeitsgericht verkenne die besondere Schwere der Beleidigung des Klägers, die darin liege, dass sie nicht nur gegenüber seinem Vorgesetzten erfolgt sei, sondern nachfolgend auch in Anwesenheit anderer Mitarbeiter der Beklagten, was dem Kläger voll bewusst war. Würde dieses Verhalten nur mit einer Abmahnung geahndet werden, wäre die Autorität des Marktleiters gänzlich verloren. Auch aus Sicht eines verständigen Arbeitgebers sei die Vertrauensbeziehung zwischen dem Kläger und der Beklagten vollständig und unwiederbringlich zerstört. Nicht nachvollziehbar seien die Ausführungen des Arbeitsgerichts, es läge zwar keine bewusste Provokation durch den Marktleiter vor, jedoch aus den Äußerungen des Klägers sei zu entnehmen, dass er diese so verstanden habe, dass Herr H. ihm die Kündigung in Aussicht gestellt habe. Dies lasse sich aus dem erstinstanzlichen Vortrag der Beklagten in keiner Weise entnehmen. Darüber hinaus habe Herr H. den Kläger nicht unmissverständlich aufgefordert, sich beim Betriebsrat zu erkundigen, sondern dies lediglich angeboten, zum andern habe der Kläger Herrn H. kaum zu Wort kommen lassen und diesen sogleich und aggressiv angeschrien. Im Übrigen würde nach der einschlägigen Rechtsprechung dies an der Rechtfertigung der Kündigung nichts ändern. Grobe Beleidigungen rechtfertigten auch ohne vorherige Abmahnung die fristlose Kündigung. Es könne für eine anderweitige Bewertung allenfalls von Bedeutung sein, ob der Arbeitnehmer zu seiner Äußerung durch ein Verhalten des Beleidigten provoziert worden ist. So liege der Fall aber nicht. Dem Arbeitsgericht sei zwar einzuräumen, dass bei der rechtlichen Würdigung die Umstände zu berücksichtigen seien, unter denen diffamierende oder ehrverletzende Äußerungen über Vorgesetzte und Kollegen gefallen sind. Solche Umstände sind vorliegend darin zu sehen, dass der Kläger die beleidigende Äußerung nicht nur im Telefonat mit Herrn H. getan habe, sondern nach Beendigung dieses Telefonats in bewusster Kenntnis der Anwesenheit anderer Mitarbeiter wiederholt in der wörtlichen Aussage verstärkt und durch das zu Boden werfen der Pizza unterstrichen habe. Diese Umstände lassen das Verhalten in einem wesentlich schärferen Licht erscheinen. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb sich der Kläger durch die Bemerkung von Herrn H: hinsichtlich der Erkundigung beim Betriebsrat über die Vorgehensweise bei einer Krankschreibung einer objektiv nicht nachvollziehbaren Kritik ausgesetzt haben soll. Das Arbeitsgericht setze bei der Interessenabwägung fehlerhaft einen verhältnismäßig geringen Bildungsgrad an, was von keiner Seite vorgetragen wurde.

Die massive Störung des Betriebsfriedens und die Beeinträchtigung der Autorität des Marktleiters müssten die Interessen der Beklagten an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses als vorrangig erscheinen lassen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Trier vom 09.02.2011 – 1 Ca 1248/10 – wird abgeändert und die Klage abgewiesen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten kostenpflichtig zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil. Er weist darauf hin, dass er schon in den Schriftsätzen der ersten Instanz erklärt habe, die Äußerungen täten ihm leid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Berufungsverfahren wird auf den vorgetragenen Inhalt der Schriftsätze der Parteien, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen.

Weiter wird verwiesen auf die Feststellungen zum Sitzungsprotokoll vom 18.08.2011.

Entscheidungsgründe:
I.  Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 ArbGG i. V. m. § 520 ZPO).

Das Rechtsmittel der Berufung hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.

II.  Im Ergebnis und in der Begründung vollkommen zutreffend hat das Arbeitsgericht Trier festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 01.09.2010 nicht beendet worden ist.

Die Berufungskammer folgt den tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen des Arbeitsgerichts vollständig, soweit sich aus den nachfolgenden Äußerungen nicht etwas anderes ergibt. Im Ergebnis und in der Begründung zu Recht hat das Arbeitsgericht Trier festgestellt, dass die außerordentliche Kündigung nicht durch einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 2 BGB gerechtfertigt ist.

Lediglich wegen der Angriffe im Berufungsverfahren sei kurz auf folgendes hinzuweisen:

Das Arbeitsgericht stützt die Entscheidung zunächst allein auf den richtig interpretierten Sachvortrag der Beklagten. Die Unwirksamkeit der Kündigung wird auf zwei tragende Erwägungen gestützt, nämlich einmal die Erforderlichkeit einer vorherigen vergeblichen Abmahnung und zum zweiten, selbst wenn eine Abmahnung nicht notwendig gewesen wäre, auf eine Interessenabwägung, die nicht das Interesse der Beklagten an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses als überwiegend erscheinen lasse. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann eine Abmahnung im Einzelfall auch als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrages notwendigen Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen.

Dies ist unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles zu bewerten.

Hierzu hat das Arbeitsgericht zutreffend auf die Ausnahmesituation hingewiesen.

Der Kläger konnte und durfte zu Recht die Äußerung des Herrn H., er solle sich einmal vom Betriebsrat bei der Vorgehensweise einer Krankschreibung beraten lassen, als Kritik an seinem Verhalten ansehen. Dies gilt um so mehr, als für die Kammer absolut nicht nachvollziehbar ist, welches Fehlverhalten hier dem Kläger zu Last gelegt werden sollte. Der Kläger hat, nachdem er eine ärztliche Untersuchung vorgenommen hat, sich sofort in den Betrieb begeben, seine Arbeitsunfähigkeit angezeigt (also berichtet, dass er arbeitsunfähig ist) und seine Arbeitsunfähigkeit nachgewiesen (in dem er eine Krankmeldung im Betrieb hinterlegte).

Die vom Marktleiter in der mündlichen Verhandlung angesprochene Verpflichtung des Klägers zu einem Gespräch mit dem Marktleiter über den Stand der Krankheit ist für die Kammer nicht nachvollziehbar. Sie kann sich insbesondere auch nicht aus einem Aushang, welcher mit dem Betriebsrat verfasst sein sollte, ergeben. Die Pflichten eines Arbeitnehmers im Krankheitsfalle sind im Entgeltfortzahlungsgesetz abschließend geregelt. Diese bezeichnen eine unverzügliche Anzeigepflicht und eine unter den dort gezeichneten Besonderheiten wiedergegebene Nachweispflicht. Beide Verpflichtungen hat der Kläger erfüllt.

Wenn das Arbeitsgericht in diesem Zusammenhang ausführt, der Kläger konnte hier von einer unberechtigten Kritik ausgehen, wird dies auch von der Berufungskammer geteilt.

Nach dem Vortrag der Beklagten, der Kläger habe anschließend geäußert, die „Arschlöcher“ sollten ihn dann doch rauswerfen, wird ersichtlich, dass der Kläger gerade diese Aufforderung, sich mit dem Betriebsrat in Verbindung zu setzen, als Drohung mit einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstanden hat. Diese Feststellung auf den Gedankengang des Klägers ist nachvollziehbar. Berücksichtigt man weiter die konkreten Umstände, dass der Kläger sich also mit einer unberechtigten Kritik versehen sah, dann ist eine anschließende wie vom Kläger gemachte Beleidigung des Marktleiters zwar nicht entschuldigt oder gerechtfertigt, stellt sich immer noch als schwere Störung des Arbeitsverhältnisses dar, lässt  aber die Verfehlungen in einem weniger strengen Licht erscheinen.

Die vom Beklagten im Berufungsverfahren nochmals in den Vordergrund gestellte Wiederholung des beleidigenden Verhaltens kann die Kammer nicht feststellen. Die Äußerung im Telefongespräch gegenüber Herrn H. und die Äußerung, die der Kläger laut im Beisein mehrerer Mitarbeiterinnen wiederholt hat, stehen in einem zeitlichen und örtlichen unmittelbaren Zusammenhang. Sie sind allein geprägt durch die besondere emotionale Ausnahmesituation, die den Kläger veranlasst hat, derart ausfallend zu werden.

Ob eine andere Beurteilung gerechtfertigt wäre, wenn der Kläger nach einer längeren Überlegungsphase die beleidigenden Äußerungen wiederholt hätte, kann an dieser Stelle offen bleiben. Ein derartiger Sachverhalt liegt ersichtlich nicht vor.

Dass das Arbeitsgericht einen „geringeren Bildungsgrad“ des Klägers festgestellt hat, ändert an der Bewertung des Verhaltens des Klägers im Zusammenhang mit der notwendigen Interessenabwägung nichts. Selbst wenn der Kläger über einen höheren Bildungsgrad verfügen sollte, was für die Kammer angesichts des Auftretens des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht wahrscheinlich erscheint, ist keine andere rechtliche Bewertung des Verhaltens vorzunehmen.

Die Kammer stellt ausdrücklich klar, dass das Verhalten des Klägers nicht sanktionslos hingenommen werden muss. Lediglich die Prüfung der Frage, ob die außerordentliche Kündigung als einzig mögliche und vertretbare Reaktion der Beklagten angemessen war, ist im Berufungsverfahren zu entscheiden. Dies ist nicht der Fall.

III.  Die vom Arbeitsgericht vorgenommene Prüfung, ob eine etwa umzudeutende ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses möglich gewesen wäre, ist in ihrem Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden.

Die ordentliche Kündigung ist schon deswegen rechtsunwirksam, weil sie gem.   § 15 Abs. 3 Satz 2 KSchG nicht ausgesprochen werden konnte. Im Übrigen hat die Beklagte auch nicht hilfsweise sich auf eine ordentliche Kündigung berufen. Angesichts der Tatsache, dass sie auf die Unkündbarkeit bereits in der Anhörung zum Betriebsrat hingewiesen hat, zeigt, dass sie eine ordentliche Kündigung nicht aussprechen wollte, hätte sie von Anfang an mit der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung gerechnet. Da eine vorzunehmende Umdeutung gem. § 140 BGB den mutmaßlichen Willen des Kündigungserklärenden voraussetzt, dieser mutmaßliche Wille gerade nicht festgestellt werden kann, erweist sich unabhängig davon, ob der Kläger rechtzeitig auf das Kündigungsverbot des § 15 KSchG hingewiesen hat, eine Überprüfung der Frage, ob das Arbeitsverhältnis durch ordentliche Kündigung beendet wurde, als entbehrlich.

IV.  Nach allem war die Berufung der Beklagten mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

Gründe für eine Zulassung der Revision bestehen angesichts der Kriterien des   § 72 Abs. 2 ArbGG nicht.