EuGH-Generalanwalt Villalón spricht über das Internet

Aus den Schlussanträgen des EuGH-Generalanwalts Villalón vom 29. März 2011 in den Rechtssachen „eDate Advertising GmbH gegen X“ (C‑509/09) und „Olivier Martinez, Robert Martinez gegen Société MGN Limited“ (C‑161/10):

Das Auftauchen und die Entwicklung des Internets und insbesondere des World Wide Web im Laufe des letzten Jahrzehnts des vergangenen Jahrhunderts haben eine tief greifende Veränderung bei der Art und Weise und den Techniken der Verbreitung und des Empfangs von Informationen bewirkt. Als Folge dieses Phänomens gibt es zurzeit zahlreiche rechtliche Kategorien, deren Konzeption und Umfang einer Neuausrichtung bedarf, wenn sie auf soziale und geschäftliche Beziehungen im Netz angewandt werden. Die vorliegende Rechtssache wirft derartige Zweifel auf dem Gebiet der internationalen gerichtlichen Zuständigkeit auf, da die bisherigen Antworten des Gerichtshofs ohne eine gewisse Nuancierung oder möglicherweise mehr als das nicht für den universalen und freien Charakter der über das Internet verbreiteten Information passen.(31)

Ohne dass es erforderlich wäre, zu den Zeiten zurückzugehen, in denen das gesprochene und weniger das geschriebene Wort das Mittel schlechthin der sozialen Kommunikation war, gehen die Meinungs‑ und Kommunikationsfreiheiten, so wie wir sie kennen, ganz besonders auf den Moment zurück, in dem es möglich wurde, es in gedruckter Form zu verbreiten. Zugleich war die schriftliche und allgemein grafische Kommunikation seither immer eine Kommunikation auf einem Papierträger. Diese technischen Innovationen ließen es zu, nach und nach die genannten Freiheiten, deren Modell sich ohne Schwierigkeiten auf auf Schall‑ und Bildwellen basierende Verbreitungsmittel übertragen ließe, zu beanspruchen und zu proklamieren.(42)

Mit der Erfindung und Einführung des Internets und des World Wide Web wurde mit dieser Tendenz zur territorialen Fragmentierung der Informationsmedien vollständig gebrochen. Sie wurde vielmehr so weit gewendet, dass sich die Informationsverbreitung von einem nationalen zu einem globalen Phänomen entwickelte. Mit der Verwendung eines technischen und immateriellen Trägers, der eine massive Speicherung von Informationen und ihre sofortige Verbreitung an jeden beliebigen Ort auf dem Planeten erlaubt, schafft das Internet eine Plattform, die es in den Techniken der sozialen Kommunikation zuvor nie gab. Auf diese Weise bewirkt das Internet zum einen eine Veränderung unserer räumlichen/territorialen Vorstellung von Kommunikation, indem es die sozialen Beziehungen globalisiert und die Bedeutung der regionalen oder staatlichen Dimension minimalisiert – bis hin zur Schaffung eines immateriellen, nicht greifbaren Raums, des „Cyberspace“, der frei von Grenzen und Beschränkungen ist. Zum anderen verändert das Internet die zeitliche Vorstellung der entsprechenden Beziehungen, und zwar sowohl durch den sofortigen Zugang zu seinen Inhalten als auch durch den potenziell dauerhaften Verbleib im Netz. Wenn ein Inhalt erst einmal im Netz zirkuliert, ist seine Präsenz dort grundsätzlich unbegrenzt.(43)

Als Folge des oben Dargelegten wählt ein Informationsmedium, das sich dafür entscheidet, seine Inhalte über das Netz zu verbreiten, eine Methode der „Verbreitung“, die sich radikal von der unterscheidet, die herkömmliche Träger erfordern. Im Gegensatz zur Presse erfordert eine Website keine vorherige unternehmerische Entscheidung über die Zahl der zu verbreitenden oder zu druckenden Exemplare, da die Verbreitung umfassend und sofort erfolgt: Sie ist bekanntlich an jedem beliebigen Ort auf der Welt zugänglich, an dem ein Zugang zum Netz besteht. Auch der Zugang zu dem Medium ist anders, ebenso wie die Techniken der Werbung im Umfeld des Produkts. Das Netz erlaubt, wie ich gerade dargelegt habe, einen dauerhaften und universellen Zugang mit sofortiger Übermittlung zwischen Privatpersonen. Selbst die im Internet existierenden zahlungspflichtigen Medien unterscheiden sich von denjenigen auf anderen Trägern dadurch, dass es für ihren Erwerb in der Regel keine räumlichen Beschränkungen gibt.(44)

Ferner ist das Internet im Unterschied zu den herkömmlichen Medien dadurch gekennzeichnet, dass die Politik in hohem Maße abwesend ist. Der globale Charakter des Internets erschwert einen Einfluss der Politik auf die im Netz vorgenommenen Tätigkeiten und mündet in eine Deregulierung, die von nicht wenigen kritisiert wird. Zur materiellen Deregulierung tritt zudem die Fragmentierung in Streitsachen hinzu, eine verstreute Mischung nationaler Rechtsordnungen mit ihren jeweiligen Vorschriften des internationalen Privatrechts, die sich überlagern und eine Annäherung an die Normen, die einen konkreten Rechtsstreit regeln, erschweren können.(45)

Die gerade dargestellten Charakteristika wirken sich unbestreitbar auf der Ebene des Rechts aus. Die globale und sofortige Verbreitung von Informationsinhalten im Internet führt dazu, dass ein Herausgeber, wie gesagt, zahlreichen lokalen, regionalen, staatlichen und internationalen Regelungen unterliegt. Durch das Fehlen eines globalen Regelungsrahmens für Informationstätigkeiten im Internet – in Verbindung mit der Vielfalt der von den Staaten vorgesehenen Normen des internationalen Privatrechts – sind die Medien zudem einem fragmentierten, aber auch potenziell widersprüchlichen rechtlichen Rahmen ausgesetzt, da das, was in einem Staat verboten ist, in einem anderen Staat erlaubt sein könnte. Die Notwendigkeit, den Medien Rechtssicherheit zu verschaffen und entmutigenden Situationen aufgrund der rechtmäßigen Ausübung der Informationsfreiheit (sogenannter chilling-effect) vorzubeugen, wird damit zu einem Ziel, das der Gerichtshof ebenfalls zu berücksichtigen hat.(46)

Außerdem wird die Kontrolle des Mediums über seine Verbreitung und den Zugang zu ihm umständlich und unter Umständen unmöglich. Von dem Moment an, zu dem ein Informationsinhalt in das Netz eingeht, werden die Einzelnen unmittelbar, freiwillig oder unfreiwillig, zu Verbreitern der Information, sei es über soziale Netze, elektronische Post, Links, Blogs oder beliebige andere Mittel, die das Internet bereitstellt. Sogar die Beschränkung von Inhalten über einen – gegebenenfalls räumlich begrenzten – kostenpflichtigen Seitenzugang stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, soweit die massive Verbreitung einer Information verhindert werden soll. In der Folge werden die Kontrolle und die Messung der Auswirkungen einer Information oder ihre Verbuchung, für die es bei den herkömmlichen Medien in erheblichem Maße verlässliche Techniken gab, zu einer unmöglich zu erfüllenden Aufgabe, wenn die Information im Netz zirkuliert.

Anm.: Rechtsanwalt Marko Dörre war für die eDate Advertising GmbH in der Rechtssache C‑509/09 vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).